

Prof. Dr. Henry Keazor
Professor für Neuere und Neueste Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg am Institut für Europäische Kunstgeschichte /
Stellvertretender Institutssprecher

© KUM Universität Heidelberg
Wenn Prof. Dr. Henry Keazor berichtet, wie er keineswegs in die Fußstapfen seines Vaters als Arzt treten wollte, beginnt man unvermeidlich zu schmunzeln. Da er “ja nicht Papi wiederholen möchte“, beschloss er ursprünglich Theaterwissenschaften zu studieren. Er absolvierte seinen Zivildienst in einem Krankenhaus und begann, weil es Spaß machte und ihm zeigte, wie wichtig es sei, Menschen zu helfen, ein Medizinstudium an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Schnell musste er jedoch feststellen, dass seine erste Grundintuition ihn von Beginn an richtig geleitet hat. „Das Studium hat mir einfach keinen Spaß gemacht, weil das nicht das war, was ich von einem Studium erwarten würde. Das war sehr viel auswendig lernen und nichts erklären oder nichts verstehen“. Nach zwei Semestern entschied er sich deshalb zu einem parallelen Studium der Philosophie und Germanistik. Medizin gab er nach weiteren zwei Semestern auf. Gleichzeitig belegte er Kurse in Literatur, Theologie und Musikwissenschaften. Zur Kunstgeschichte kam er dabei rein zufällig: Bei den Kunsthistoriker*innen wurde ein Seminar zur Ikonographie des Neuen und Alten Testaments angeboten. Da sich dieses gut mit seinem Studium der Theologie verbinden ließ, ging er hin. „Ich hab mich in das Seminar reingesetzt, ganz naiv in die Mitte des Raumes. Der Raum war knall voll.“ Leider fiel das eigentliche Seminar dann spontan aus und wurde durch einen Kurs der Methoden der Kunstgeschichte ersetzt. „Das hat mich eigentlich nicht interessiert, aber ich konnte da nicht mehr raus, weil ich in der Mitte des Raumes saß.“ Eigentlich. Denn als Berninis Heilige Theresa gezeigt wurde und er diese aus einem Urlaub wiedererkannte, war sein Interesse geweckt. Er übernahm das Referatsthema und erkannte, dass Kunstgeschichte „so integrativ für [s]eine Interessen: Literatur, Theologie, Musikwissenschaft, Germanistik, Philosophie“ sei.
Während seines Studiums ging Keazor für drei Semester an die Universität Paris-Sorbonne. In dieser Zeit stellte er fest, wie fundamental sich das französische Studiensystem von dem deutschen unterscheide. In Deutschland sei vertiefendes Lernen und eine frühzeitige Spezialisierung auf gewisse Themengebiete üblich. Wohingegen in Frankreich auf Schwerpunkte verzichtet werde, sondern vielmehr die Bandbreite der Kunstgeschichte aufgezeigt werde. „Ich fand das total faszinierend. […] Dadurch hat man begriffen, dass man eigentlich diesen ganz breiten Horizont haben sollte.“ Problematisch bei diesem umfangreichen Einblick sei aber die Bildung und Vermittlung von Kanones, die letztlich eine ganz bestimmte Kunstgeschichte perpetuieren würden. Prekär sei hier auch die zu einem großen Teil bisher ausschließlich auf Künstler vermittelte Sicht, die viele Künstlerinnen ausklammere. Darüber hinaus unterscheiden sich die beiden Studiensysteme fundamental hinsichtlich der Eigenständigkeit ihrer Studierenden. In Deutschland sei Eigenverantwortung gang und gäbe, hingegen haben die Studierenden in Frankreich „nicht gelernt, kritisch, selbstständig Fragen zu formulieren. […] In der Vorlesung haben Sie da das Gefühl, Sie seien in einer Pressekonferenz.“ Das Pult des Dozierenden sei übersät mit Mikrofonen der Studierenden, um in der Prüfung letztlich alles nur wortwörtlich wiedergeben zu können. „Das fand ich bestürzend. […] Das ist nicht Studium in unserem Sinne.“ Trotz oder gerade auf Grund solcher Erfahrungen kann er ein Auslandssemester empfehlen. „Ich werbe immer dringlichst dafür, dass die Leute mal ins Ausland gehen, weil das in so vielerlei Hinsicht wichtig, bereichernd und eben auch Weichen stellend sein kann. Das kann man gar nicht überschätzen.“ So entstand beispielsweise die Idee zu seinem Promotionsthema über das Werk des barockzeitlichen Malers Nicolas Puossin während seiner regelmäßigen Besuche im Louvre.
Zu Promovieren stand für ihn, im Hinblick auf sein Ziel Hochschullehrer zu werden, außer Frage. Keazor rät heutzutage eine Promotion nur anzustreben, wenn es unabdingbar für den Beruf sei und man das wirklich unbedingt wolle. Ausschließlich zur Erlangung des Titels, sei dies nicht ratsam. „Man muss Spaß am Forschen, Spaß am Schreiben haben. […] Das muss am Ende eine Genugtuung sein, dass man etwas produziert hat.“ Ein Stipendium biete dabei die Möglichkeit, sich kopfüber in ein Thema zu stürzen, frei von jedweder Verpflichtung gegenüber eines Jobs. „Das ist ein riesen Genuss.“ 1996 beendete er seine Promotion. Dann kam die Frage: Wie weiter?
Er hatte Glück: Am Kunsthistorischen Institut in Florenz war eine Assistentenstelle ausgeschrieben. „Ich bin dann total naiv und unvorbereitet in dieses Vorstellungsgespräch. […] Die haben mich Sachen gefragt, da hatte ich noch nie zuvor darüber nachgedacht.“ Lachend und ein wenig peinlich berührt ergänzt er, dass dies nicht der optimale Fall sei und er im Nachhinein nie wieder so unvorbereitet in ein solches Gespräch gehen würde. Er bekam die Stelle nicht. Dafür wurde ihm der Platz für ein Stipendium vor Ort angeboten. Da der Assistent, der die Stelle erhalten hatte, erst zu einem späteren Zeitpunkt antreten konnte, übernahm Keazor zumindest sechs Monate vor Beginn des Stipendiums die Assistentenstelle in Florenz. Mit Ende seines Stipendiums bewarb er sich erneut um die Assistentenstelle. Zu dieser Zeit galt als Anforderung, sich mit einem Postdoc-Projekt zu bewerben, das thematisch zur toskanischen Kunstgeschichte passte. „Die hatten damals einen unglaublich engen Fokus.“ Er arbeitete allerdings zur bolognesischen Barockkunst; ein Projekt aus dem sich auch später seine Habilitation entwickelte. „Ich war da schon ein exotisches Tier.“ Dieser institutsinterne Fokus habe sich inzwischen geändert. Dieses Mal glückte das Bewerbungsgespräch aber auf Anhieb und er erhielt die Stelle. Der Alltag in Florenz sah so aus, dass er u.a. darüber entschieden habe, wer welche Art von Zugang zum Institut für wie lange bekommen habe. „Das klingt erst einmal furchtbar langweilig, weil man denkt, dass man da so Türsteher ist.“ Genau genommen sei er aber für diverse organisatorische Bereiche zuständig gewesen und konnte von dem Austausch mit den Institutsbesucher*innen ungemein profitieren. Die Erfahrung, einige Koryphäen der Kunstgeschichte persönlich kennenzulernen, „das war ein ganz tolles Privileg in diesen drei Jahren.“
1999 kehrte Keazor nach Deutschland zurück und begann als wissenschaftlicher Assistent am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität in Frankfurt. Als Gründe für diese Entscheidung führt er einerseits die Unzufriedenheit mit dem damals noch sehr eingeschränkten thematischen Spektrum am Florentiner Institut an und andererseits die Befürchtung, sich in Deutschland schwerer etablieren zu können, je länger die Zeit im Ausland andauere.
In Frankfurt arbeitete er unter Klaus Herding, Professor für europäische Kunstgeschichte und ein „sehr fordernder Chef“. Von Beginn an hatte Herding klargestellt, dass er erwarte, dass Keazor nach Ende seiner sechs Jahre am Institut habilitiert sein solle. „Da bin ich ihm sehr dankbar für. Ich habe damals zwar immer gestöhnt, […] aber das war eine tolle Zeit, ein ganz toller Vorgesetzter und Lehrer.“ Seine Aufgaben bestanden im Fotokopieren, Recherchieren, Bibliographieren und in der Vorbereitung gemeinsamer und eigener Lehrveranstaltungen. Herding ließ ihm jedwede Freiheiten in deren Gestaltung: „Öffne deine Augen, Kunstgeschichte ist mehr als du machst.“ 2005 reichte Keazor letztlich seine Habilitation ein.
Nach Ende seiner Zeit in Frankfurt arbeitete er für ein Jahr als Gastprofessor an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Die Zeit dort sei toll gewesen. Bisher seien ihm Vorlesungen als Assistent immer verwehrt geblieben, erst als Gastprofessor durfte er dieses Format anwenden. Zudem wuchs sein Lehrdeputat von zwei auf vier Veranstaltungen die Woche. Als Gastprofessor nehme man zwar am Universitätsleben in vollem Umfang teil, aber der administrative Aufwand fiele noch weg. Dass er nach so einem Tag damals trotzdem müde war, darüber lacht er heute. Denn jetzt als Professor und stellvertretender Institutssprecher ist lediglich zuweilen zeitig Feierabend. „Man verteilt wahrscheinlich seine Energien im Laufe der Zeit einfach so, dass man auch noch für anderes Kapazitäten hat.“
Nach dem Ablauf der Gastprofessor wusste er nicht, wie es weitergehen sollte. „Das war so ein Punkt, wo ich gedacht habe: War das so eine gute Entscheidung, sich in diese Richtung zu bewegen?“ Er bewarb sich auf andere, nicht akademische Stellen. Doch es kamen nur Absagen mit der Begründung, dass er überqualifiziert sei und einen eindeutigen Berufsweg eingeschlagen habe. Das große Problem zu dieser Zeit: seine Verbeamtung in Frankfurt. Als Beamter kann man nicht arbeitslos gemeldet werden und demnach auch kein Arbeitslosengeld erhalten. „Ich wäre sofort zum Sozialfall geworden.“
Um dem zu entgehen, bewarb er sich für ein Heisenberg-Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, indem er diverse Projektideen einreichte. Als er zwei Tage vor seinem bereits beantragten Termin beim Sozialamt nach Hause kam, lag ein Umschlag der DFG im Briefkasten. Ein großer Umschlag bedeute meist eine Zusage mit weiteren auszufüllenden Formularen. Hingegen sei eine Absage in einem Kleinen. In seinem Briefkasten: ein kleines Kuvert. „Da dachte ich: Na gut, das war’s. Ich habe dann im Treppe hochgehen den Briefumschlag aufgemacht und das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Brief drei Mal gelesen habe, weil ich nicht glauben wollte, was da drin stand, weil es die Zusage war.“ Das Stipendium nahm er zwei der fünf geförderten Jahre wahr, zu dem Termin im Sozialamt ist es bis heute nicht gekommen.
2008 wechselte Keazor an das kleinere kunsthistorische Institut der Universität des Saarlandes mit dem Auftrag, die Studierendenzahlen zu erhöhen. Die gelungene Vergrößerung der Studierendenschaft habe auch eine Forderung nach einer Verstärkung der Lehrschaft mit sich gezogen. Vom Präsidenten wurde dies jedoch abgelehnt. Unzufrieden mit der Situation bewarb er sich daher 2012 als eine Stelle an dem größeren Lehrstuhl für Neuere und Neueste Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg ausgeschrieben wurde. Seine Bewerbung kam in die nähere Auswahl, er wurde für einen Vortrag eingeladen. Nach der Endrunde wurde er genommen und erhielt einen Ruf aus Heidelberg. „Sie können dann die Bedingungen verhandeln, sowohl an der Universität, an der Sie noch sind, als auch an der Universität, zu der sie hingehen wollen; also, unter welchen Bedingungen Sie diesen Ruf annehmen würden.“ So ergab sich ein weiterer Grund, die Forderung nach einer Verstärkung des Lehrstuhls an der Universität des Saarlandes mit Nachdruck erneut zu äußern. Nachdem auch diese Verhandlung scheiterte, beschloss er, an den Heidelberger Lehrstuhl zu wechseln.
Viele Themen, die er in seiner Forschung behandle, versuche er auch in seine Lehre einfließen zu lassen. Umgekehrt dazu werden auch Themen aus Lehrveranstaltungen zu Forschungsprojekten. Ganz nach dem Humboldtschen Prinzip: „Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden“. Einzig problematisch in seinem Beruf seien die Verwaltungsaufgaben, die anfallen. Durch sie fehle manchmal die Zeit für tiefergehende Forschungen. Deshalb mache er sich auch immer für eine fundierte Lehre und Forschung stark. Die Digitalisierung biete dabei in der aktuellen Pandemie eine große Erleichterung und Möglichkeit für seine Lehre. Keazor habe bereits Aspekte entdeckt, die er für weitere Lehrveranstaltungen gerne übernehmen würde. Er finde den asynchronen Rückgriff der Studierenden auf Lerninhalte spannend. Es entstehe eine ganz andere Dynamik als in einem Präsenzseminar. „Weil die Leute einfach Zeit haben, über das nachzudenken, was sie gerade gesehen und gehört haben.“ Eine Möglichkeit biete die Implementierung der inverted-classroom-Methode in seine Präsenzlehre. Inhalte werden zu Hause angeeignet und im Seminar werde das so erlernte Wissen dann angewendet. „Das hebt die Qualität des Diskurses“, weil eben auch zurückhaltende Studierende zu Wort kommen würden. Dadurch finde eine gewisse Demokratisierung statt.
Als Hochschulprofessor rät er Studierenden, die in die Forschung wollen: „Machen Sie all das, wofür Sie brennen. Machen Sie das, wofür Sie richtig begeistert sind, wovon Sie überzeugt sind. Machen Sie Nichts, wovon Sie das Gefühl haben, dass könnte strategisch wichtig sein, aber es interessiert mich eigentlich nicht. […] Verlieren Sie aber nicht die Realitäten aus dem Blick.“
Zum Ende des Gespräches hin sind wir noch auf Keazors Forschungsschwerpunkt der Kunstfälschung zu sprechen gekommen. Sein Interesse an dieser Thematik habe bereits während der Schulzeit bestanden. Da „habe ich mich schon für das Imitieren von Dingen fasziniert. […] Darüber kann man sehr viel über das Verständnis des Originals lernen.“ Fälschungen spiegeln die Kunstgeschichte in ihrer ganzen Fülle wieder; sie seien Manipulation und Teil der Kunstgeschichte zugleich. „Es passiert viel bei uns im Kopf und wir glauben viel, wenn man uns das sagt. Wenn man uns das aber nicht sagt, fallen wir auch gerne auf Fälschungen rein, auch weil es diese ‚Aura des Originals‘ gibt.“ Keazor bedauere daher den Mangel an Möglichkeiten, im Studium in physischen Kontakt mit Werken zu treten. Fälschungen müssten demnach sowohl theoretisch, als auch praktisch in das Studium verstärkt mit eingebunden werden.
Wir bedanken uns ganz herzlich bei Prof. Dr. Henry Keazor für den Austausch und wünschen Ihm, dass er alsbald von der NASA als Kunsthistoriker ausgewählt und ins All geschickt wird!
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- Hannah Steinmetz, veröffentlicht am 12. Februar 2021