

Dr. Andrea Weniger
Leiterin der Abteilung Bildung und Vermittlung an der Hamburger Kunsthalle
Der glückliche Zufall – der vielleicht unterschätzteste, weil so unberechenbare Faktor für die berufliche Karriere. Im Falle von Andrea Weniger, heute Leiterin der Abteilung Bildung und Vermittlung an der Hamburger Kunsthalle, kam er bereits zu Beginn ihres Werdegangs zum Tragen: Gerne wollte die junge Abiturientin jene Fächer studieren, die ihr bereits in der Schule am meisten Freude bereitet hatten – Kunst(geschichte), Ethik und Französisch.

© Sinje Hasheider
Dass sie diese Idee umsetzen konnte, verdankte sie dem glücklichen Umstand, dass genau im Jahr ihres Schulabschlusses an der Universität Augsburg der neue Studiengang Europäische Kulturgeschichte startete. Damals noch ohne Zulassungsbeschränkung, wodurch Weniger sich einfach einschreiben konnte. Nur ein Jahr später hätte ihre Abiturnote schon nicht mehr für den Numerus Clausus gereicht. Ergänzt durch die Nebenfächer Kunstgeschichte, Romanistik und Pädagogik entpuppte sich der neu eingerichtete Bachelorstudiengang als genau das Richtige. In einer der Einschreibung vorangegangenen Berufsberatung war Weniger die Richtung in die Geisteswissenschaften bereits vorgeschlagen worden und mit ihrem ersten Seminarreferat bestätigte sich ihre Wahl: Darin ging es um die kulturhistorische Publikation des französischen Historikers Alain Corbin „Les cloches de la terre. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts“. Noch heute muss sie immer wieder daran denken und schmunzeln, wenn sie in Hamburg das Kirchenläuten hört und sich plötzlich ein bisschen heimischer fühlt, da die Kirchenglocken in ihrer Heimat in Franken so häufig ertönen. "Das Studium hat meinen geistigen Horizont extrem erweitert.“
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Andrea Wenigers Fächerwahl war wie bei vielen zunächst inhaltlich geleitet, konkrete berufliche Vorstellungen fehlten zum Zeitpunkt des Studienbeginns. Da ihr Studiengang jedoch früh durch berufspraktische Workshopangebote seine Studierenden zum Ausprobieren im Berufsleben motivierte, absolvierte Weniger bereits im zweiten Semester ein Praktikum im Rahmen eines an das Ägyptische Museum angedockten Ferienprogramms des Museumspädagogischen Zentrums in München. „Da ist dann der Groschen für mich gefallen und mir war klar, das Museum soll es sein. Von da an habe ich richtig darauf zu gearbeitet – natürlich immer mit der Ungewissheit, ob es denn auch klappen wird.“ Angefixt absolvierte die Studentin die folgenden Jahre diverse weitere Praktika in den unterschiedlichsten Institutionen, sowohl im Bereich des Kuratorischen als auch in der Kunstvermittlung. „Ich glaube, die Kombination war sehr gut, denn das sind zwei Bereiche im Museum, die sehr eng miteinander zusammenarbeiten müssen. So habe ich einen Einblick bekommen, was im Museum angestellten Kurator*innen und Kunstvermittler*innen, damals noch Museumspädagog*innen genannt, wichtig ist.“
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Nachdem Weniger sich zwar schnell über das Museum als Wunscharbeitgeber klar war, sollte es allerdings noch dauern, bis sie sicher wusste, in welchem der beiden Bereiche sie nach Abschluss ihres Studiums lieber tätig sein würde. Da ihr der Doktortitel als großer Bonus für eine Museumskarriere immer wieder ans Herz gelegt wurde, entschied sie sich nach Abschluss ihres Masters in dem Studienfach Museum & Ausstellung an der Universität Oldenburg zunächst für ein Promotionsprojekt an der LMU München. Inhaltlich basierte das Vorhaben auf den sehr umfassenden Forschungsergebnissen ihrer Masterarbeit zu einem Bremer Kunstsammler, welche sie auch nach Abgabe nicht losließen. Da Weniger trotz zahlreicher Bewerbungsversuche kein Stipendium erhielt, finanzierte sie sich die am Ende insgesamt sechs Jahre Promotion durch zahlreiche Jobs in den unterschiedlichsten Bereichen. „Es gab Zeiten, da hatte ich fünf Jobs gleichzeitig, plus die Promotion. Ich habe das dann so gemacht, dass ich einen festen Job hatte, bei dem auch Sozialleistungen abgehen, um auch ein bisschen abgesichert zu sein. Denn im Freiberuflichen, das war mein zweites Standbein, da ist man immer abhängig von Aufträgen.“ So wurde das Scannen alter Handschriften in der Bayerischen Staatsbibliothek zu ihrem festen Halbtagsjob. Freiberuflich und damit zeitlich flexibel war sie im Museumspädagogischen Zentrum, in Museen und für eine Agentur für Kunst-Stadtführungen tätig. „Einerseits war es schon stressig und man muss einfach sehr gut organisiert sein. Andererseits war es für mich die Zeit, in der ich das erste Mal so richtig in die Berufspraxis reinkam. Ich habe ja keine klassische Kunst- oder Kulturpädagogische Ausbildung, sondern bin qua Studium Kunst- und Kulturhistorikerin. So habe ich das für mich zentrale Wissen, das ich im Vermittlungsbereich habe, durch die Praxis erlernt.“. Auch wenn sich ihre Promotion durch fehlende Stipendien und die daraus resultierende, parallele Berufstätigkeit am Ende ziemlich in die Länge zog, sagt sie rückblickend: „Wenn ich diese Berufserfahrung nicht hätte, hätte ich auch meinen heutigen Job nicht bekommen.“ Es war sozusagen Glück im Unglück – auch wenn es zeitweise extrem anstrengend gewesen sei. „Ich merke immer wieder, dass ich zwar vielleicht nicht die größte Theoretikerin bin, aber dafür die große Praktikerin – und das ist gut so. Denn die Theorie kann man sich anlesen, die Praxis muss man sich aneignen.“ In dieser Hinsicht sei eine Promotion heutzutage ihres Erachtens auch kein unbedingtes Muss mehr für eine wissenschaftliche Stelle am Museum, wohl aber mitunter vorteilhaft.
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Ein weiterer wichtiger Schritt auf ihrem Weg war im Anschluss an die Promotion ein wissenschaftliches Volontariat an der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe. Für eine Karriere in der Museumsbranche sei diese Art Ausbildung auch heute noch ein sinnvoller Einstieg. Die Bewerbung hierzu verlief ganz klassisch über eine Stellenausschreibung. Wenigers fundierte Französisch-Kenntnisse durch ihr Romanistikstudium und ein Auslandssemester in Lyon waren im Nachhinein mitunter Grund für die Zusage, glaubt sie. Denn durch die räumliche Nähe zu Frankreich spiele die Sprache für die Textproduktion an dem Karlsruher Museum neben Englisch eine zentrale Rolle. Das auf zwei Jahre befristete Volontariat beinhaltete vor allem die Mitarbeit an einer großen Landesausstellung zu Hans Baldung Grien. Außerdem war sie in die Erarbeitung eines großen Vermittlungsprogramms für einen Kultursommer involviert. Damit wirkte man der in der Rheinebene wegen der hohen Temperaturen zu dieser Jahreszeit häufig verringerten Anzahl von Besucher*innen erfolgreich entgegen. Weniger konnte im Rahmen des Projektes viel ausprobieren und experimentieren. Die Freude, die sie dabei empfand, war schließlich ausschlaggebend, dass sie sich nach langer Unentschlossenheit für den finalen Schritt in die Kunstvermittlung entschied.
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Noch vor Ende ihres Volontariats begann sie am Münchner Haus der Kunst als Verantwortliche für die Bildung und Vermittlung sowie für den Besucher*innenservice. Direktor war damals der nigerianische, 2019 verstorbene Ausstellungsmacher Okwui Enwezor. Im Gegensatz zu den meisten anderen Ausstellungshäusern setzte Enwezor, der als künstlerischer Leiter unter anderem 2005 auch die documenta 11 und zehn Jahre später die 56. Biennale di Venezia verantwortete, insbesondere auf außereuropäische, zeitgenössische Kunst. Die Neugestaltung des Vermittlungsprogramms lag bei Andrea Weniger. „Das war super für mich. Ich durfte alles analysieren und mitunter ganz neue Formate entwickeln.“ Vor allem die Zusammenarbeit mit den Kurator*innen und ausstellenden Künstler*innen, die mitunter in die Vermittlung involviert waren, empfand sie als gewinnbringend und inspirierend. Beispielsweise sprach der ghanaische Künstler El Anatsui Teile seines Audioguides mit ein und Weniger konnte ihn überzeugen, einen Teil eines seiner aus Flaschenverschlüssen geknüpften Kunstwerke als Tastobjekt für eine Führung für blinde und seheingeschränkte Besucher*innen zur Verfügung zu stellen.
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Da auch diese Stelle befristet war, verschlug es Andrea Weniger zwei Jahre später wieder nach Karlsruhe. Dieses Mal jedoch ganz abseits der Kunst an das Staatliche Museum für Naturkunde. Die vom Land Baden-Württemberg geförderte, erneut befristete Stelle für die digitale Vermittlung der Sammlungen des Museums reizte sie. Bisher hatte sie vor allem im Bereich der personellen, analogen Vermittlung gearbeitet und so konnte sie viel Neues dazu lernen. Zwar seien aus fachlicher Perspektive die Vermittlungsaufgaben in einem naturwissenschaftlichen Museum trotz der Fachfremdheit als Kunsthistorikerin nicht so anders wie man annehmen könne. In der Praxis unterscheide sich die Art der Vermittlung dann aber natürlich trotzdem: Denn das Auratische des Originalwerks in einer Kunstausstellung sei in naturkundlichen Ausstellungen nicht so präsent. Es gäbe zahlreiche Modelle und Repliken und man arbeite viel mit Hands-On-Stationen zum Anfassen. Klar, dass sich so ein ganz anderes Vermittlungsprogramm ergibt.
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Nach diesen Stationen in Süddeutschland hat es Andrea Weniger mittlerweile in den hohen Norden verschlagen. Ihr Job als Leiterin der Bildung und Vermittlung an der Hamburger Kunsthalle ist dabei ihre erste unbefristete Anstellung. Hier verantwortet sie nun die personelle sowie die nicht-personelle Vermittlung der Ausstellungen und Sammlung. Gemeinsam mit ihrem sechsköpfigen Team erarbeitet sie sowohl im analogen als auch im digitalen Bereich ein Zielgruppengerechtes Programm. Bei der Betreuung der Besucher*innen vor Ort werden sie von über 60 Kunstvermittler*innen unterstützt. Anspruch ist, möglichst vielen Museumsbesucher*innen durch unterschiedliche Formate die Ideen und Inhalte dessen zu erklären, was Kurator*innen in ihren Ausstellungen erarbeitet haben. Kunstvermittlung könne hierbei einen entscheidenden Beitrag leisten. Denn, egal aus welcher Zeit die gezeigte Kunst stamme, könne diese immer in Verbindung mit dem Alltag und der Lebensrealität der Menschen treten. Neben dem Erkenntnisgewinn sei aber auch der Spaß während des Museumserlebnisses zentral. Etwas, mit dem sich die heutige Kunstvermittlung von der früheren Museumspädagogik deutlich unterscheide: „Es ist nicht nur reine Wissensvermittlung von einer Deutungshoheit, es ist Vermittlung auf Augenhöhe, im Dialog und so im besten Sinne auch Unterhaltung im Rahmen der Freizeitgestaltung. Es geht darum, dass man die Welt draußen einfach mal draußen sein lassen, drinnen etwas Neues erleben kann und idealerweise bereichert wieder nach draußen zurückkehrt.“ So kann es sein, dass Andrea Weniger und ihr Team hierfür Musiker*innen und Tänzer*innen ins Museum holen, VR-Installationen einrichten oder zum Dialog mit Chatbots einladen. Immer im Hinterkopf, damit möglichst schwellenarme Angebote für alle zu schaffen und Menschen auf ihren verschiedenen Interessensebenen anzusprechen. „Es ist wirklich mein absoluter Traumjob und auch, wenn ich mir andere Bereiche im Museum vorstellen könnte, ist und bleibt mein Steckenpferd die Vermittlung – weil es eine ebenso herausfordernde wie bereichernde Tätigkeit mit und für Menschen ist.“ Schließlich sei man als staatliche Einrichtung auch dazu verpflichtet, allen Steuerzahler*innen etwas zu bieten, das sie anspricht. Über das Klischee, die Beschäftigung mit Kunst sei elitär, oder, ganz gegenteilig, Kunstvermittlung nur Kinderbastelei, lächelt Weniger hinweg. Die Erfahrung und die aktuellen Entwicklungen in diesem Berufsfeld würden nur zeigen, welche zentrale Bedeutung Kunstvermittlung heute hat.
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Wir bedanken uns bei Andrea Weniger für das schöne Gespräch!
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– Valentina Bay, 14. Oktober 2022